Von Schweinejauche und Heimatliebe

Sebastian Eichler an seinem Schreibtisch mit alten Dokumenten.
Sebastian Eichler gehört zum 13-köpfigen Team des Stadtarchivs. Fotos: DOMUSIMAGES

500 laufende Meter Gerichtsakten haben Antje Diebermann und Sebastian Eichler bereits aufgearbeitet, studiert und übersetzt, in Archivkartons verpackt und beschriftet. Wenn sie in ein paar Jahren damit fertig sind, hat das Stadtarchiv einen neuen Schatz.

Sebastian Eichler ist Historiker – und schon von Berufswegen reinlich und akkurat. Trotzdem liegt mitten auf seinem Schreibtisch, feinsäuberlich zusammengeschoben: ein Häufchen Schmutz. »Das bleibt übrig, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind.« Der 32-Jährige und seine Kollegin Antje Diebermann ackern jahrhundertealte Gerichtsfälle durch. Sie lesen, sortieren und bürsten. Wenn sie in ein paar Jahren damit fertig sind, hat das Stadtarchiv einen neuen Schatz.

Eine Sisyphusarbeit
Die Blätter sind schon lange nicht mehr weiß. Sie sind braun, manche schwarz. Die Ränder sind angefressen, andere versengt. Mit einer Bürste aus weichem Ziegenhaar und Kautschuk-Schwämmchen nehmen sich die studierten Historiker Blatt für Blatt vor. Behutsam radieren und bürsten sie weg, was sich über Jahrhunderte festgesetzt hat: Staub, Ruß, Schimmelsporen, kleine Klümpchen Erde. Eine Sisyphusarbeit. Aber das ist noch nicht der schwierigste Teil. Das Papier ist eng beschrieben, mit Jahrhunderte alten Handschriften. Die Gerichtsfälle stammen aus der Zeit zwischen 1560 und 1880. Manche umfassen tausend Seiten. »Es braucht Geduld und viel Übung, alles zu entziffern«, erklärt Sebastian Eichler. Der Mühe Lohn: Was er in den alten Akten liest, oft in Latein oder Niederdeutsch, erfreut das Wissenschaftlerherz. Protokolle, Gutachten, Steckbriefe, Zeugenaussagen im Wortlaut der Zeit geben Einblicke in den Alltag der Rostocker damals. Ein Nachbarschaftsstreit um Schweinejauche, Anklagen wegen Beleidigung und gepanschtem Bier, getürmter Ehefrauen und gebrochenen Eheversprechen, Schulden und Erbstreitereien. Auch Mord und Totschlag kommen vor. Der studierte Historiker sagt augenzwinkernd: »Man kann feststellen: Der Mensch ändert sich offenbar nicht.«

Was wollen die Leute in 100 Jahren über uns wissen?
500 laufende Meter Gerichtsakten sollen die beiden Archivmitarbeiter erschließen. Tausende Fälle haben Antje Diebermann und Sebastian Eichler bereits aufgearbeitet, studiert und übersetzt, in Archivkartons verpackt und beschriftet. Ein ganzes Magazin-Regal haben sie gefüllt. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Bis 2027 dauert das Projekt mindestens. Ziel ist es, dass Besucher des Archivs die Gerichtsakten eines Tages alle durchstöbern können. Dass die alten Akten der Rostocker Ober- und Niedergerichte bis jetzt nicht archiviert wurden, hat triftige Gründe. Erst vor 140 Jahren wurde das Rostocker Stadtarchiv gegründet. Bis dahin, seit dem 13. Jahrhundert, lagen städtische Unterlagen lose und unsortiert in Kisten, Rathauskellern und Dachstuben. Die Folge: Die Sammlung ist voller Lücken, viele Aufzeichnungen sind Kriegen, Bränden und anderen Katastrophen zum Opfer gefallen. Um Haaresbreite hätte es auch die Gerichtsakten erwischt: Im Zweiten Weltkrieg wurde das Dach des Stadtarchivs getroffen. Mutige Helfer konnten einen Großteil der unbezahlbaren Bestände retten, warfen Papierpacken aus dem Fenster und schippten Erde drauf. »In den Jahrzehnten danach waren die Akten an verschiedenen Standorten verteilt und haben weiter gelitten.« Den Nachlass der Stadt haben die Mitarbeiter noch nicht vollständig verzeichnet – schließlich müssen sie auch die Gegenwart archivieren. Im Magazin liegen: alte Verträge und Urkunden, Geburtenregister, Sterbeurkunden, Eheschließungen und Kirchenbücher. Aber auch Zeitungen, Tagebücher, wissenschaftliche Manuskripte, Briefwechsel, Memoiren und Firmenbilanzen, 20.000 Fotos, 3.500 Stadtpläne und Landkarten, 4.800 Testamente. »Ein Stadtarchiv versucht, das Leben der Leute abzubilden und Zeugnisse davon zu bewahren.« Natürlich kann man unmöglich alles aufheben – die vier Etagen sind schon ziemlich voll. »Wir müssen in die Zukunft blicken und gut auswählen: Was wollen die Leute in 100 Jahren über uns wissen?«

Ein Regal voller gebündelter alter Akten.
In Bündeln kommen die alten Akten an. Wenn Sebastian Eichler mit ihnen fertig ist, sind sie gereinigt, gesichtet und in Kartons verpackt.

Wer interessiert sich überhaupt dafür, wie es früher in Rostock zuging? »Die Stadt! Die Verwaltung muss Rechte nachweisen oder braucht beispielsweise Informationen aus alten Bauunterlagen.« Und dann gibt es viele Rostocker, die Fragen zur Geschichte haben: Schüler, Studenten, Soziologen, Hobbyforscher, die sich für ihre Heimat oder ihre Familiengeschichte interessieren. Sebastian Eichler unterstützt die Besucher im Lesesaal bei ihren Recherchen, wenn er nicht gerade Gerichtsakten sichtet. »Einer sucht im Geburtenregister nach seinen Ururgroßeltern, der nächste in der Fotosammlung nach alten Aufnahmen seiner Straße.«

Stadtgeschichte mitschreiben
Das Stadtarchiv lebt auch von Schenkungen der Rostocker. Aktuell sucht das Archiv Unterlagen und Aufzeichnungen von Rostocker Sport- und Freizeitvereinen, von Hausgemeinschaften, Arbeitsbrigaden, Selbsthilfegruppen und Arbeitsgemeinschaften. In der Archivwoche vom 14. bis 18. Oktober können Hansestädter ihre Funde begutachten lassen. Aber: »Wir können nicht alles übernehmen, dafür reicht der Platz nicht«, so Sebastian Eichler. Ansichtskarten und Bücher über Rostock beispielsweise hat das Archiv genug. Im Oktober wird das Stadtarchiv 140 Jahre alt – und lädt alle Rostocker zur Archivwoche ein. Unter anderem sind Vorträge und eine Ausstellung geplant.

Stadtarchiv | Hinter dem Rathaus 5 | 0381 381-1361 oder stadtarchiv{at}rostock.de
Lesesaal geöffnet: Mo bis Do 9 – 12 Uhr, Mo + Do 13 – 16 Uhr, Di 13 – 18 Uhr