»Das ist meine Aufgabe«
Die meisten Menschen fotografieren Momente, die aus dem Alltag fallen. Hochzeit, Urlaub, Einschulung. Siegfried Wittenburg drückt auf den Auslöser, wenn es gar nichts Besonderes zu sehen gibt. Das hat er auch in den Jahren vor und nach der Wende getan. Auf seinen Fotos hat der Rostocker den sozialistischen Alltag in der DDR dokumentiert.
Ein Blick ins Schaufenster vom »Delikat«. Matsch und Modder zwischen Neubaublocks. Trabbis in Reih und Glied. Bergeweise Papier vor einer SERO-Annahmestelle. Was für junge Menschen aussehen muss wie Bilder von einem anderen Stern, katapultiert Rostocker, die die DDR noch erlebt haben, direkt in ihre Vergangenheit. In den 80ern und frühen 90ern ist Siegfried Wittenburg mit seiner Praktica losgezogen.
»Ich bin ein Erzähler und Fotos sind meine Sprache«
Er war nicht auf der Suche nach Spektakel. »Ich habe fotografiert, was war. Das Leben vor der Haustür.« Dass er damit viele Jahre später groß rauskommen würde, hatte der gebürtige Warnemünder nicht im Sinn. Aber dazu später. Siegfried Wittenburg ist 24 Jahre alt und Funkmechaniker beim VEB Schiffselektronik Rostock, als er 1977 seine erste Spiegelreflexkamera kauft. Für 600 Ostmark. »Ich habe schnell gemerkt: Das ist mein Medium. Ich bin ein Erzähler und Fotos sind meine Sprache.« Im dunklen Bad seiner Eltern, in Lichtenhagen, richtet er ein Labor ein, hier entwickelt er seine Filme. Anfang der 80er tritt er dem Fotozirkel der Warnowwerft bei, wird später Leiter vom Jugendfotoclub »Konkret«. Wittenburg fotografiert Straßenhändler im sibirischen Irkutsk, die leere Innenstadt von Halle. Aber vor allem ist er in Rostock auf der Pirsch. Im Nordwesten mit seinen Plattenbauten, in der zerfallenden Altstadt. Er fotografiert in Privatwohnungen Familien beim Abendbrot, Facharbeiter in Betrieben. Er drückt auf den Auslöser, als Rostockerinnen in einer langen Schlange nach Obst anstehen. Und er beobachtet Herzchirurgen der Rostocker Uni bei ihrer Arbeit im OP. Im Herbst '89 ist er bei den Zusammenkünften in der Marienkirche dabei, auch bei den Demos auf der Straße. »Mir war klar: Das festzuhalten, ist jetzt meine Aufgabe.«
Fotos aus einem Land, das es nicht mehr gibt
In den Jahren nach dem Untergang der DDR dokumentiert er den Bauboom in den Städten, die Schließung von Betrieben, den Einzug des Kapitalismus. »Das waren merkwürdige Jahre. Ich wusste, diese Veränderungen sind einmalig.« Wittenburg fotografiert immer weiter – obwohl er damals, wie viele, ganz andere Sorgen hat. Der Familienvater ist jahrelang im Außendienst auf Achse. Als er Mitte der 90er ohne Job dasteht, durchforstet er sein Archiv und traut sich was: Er lässt seine eigene Postkartenserie drucken – »Grüße aus der DDR«. Ein Volltreffer. 200.000 Karten verkauft er in eineinhalb Jahren. »Da habe ich begriffen, welchen Wert meine Bilder für die Menschen aus dem Osten haben.« Mit jedem Jahr wächst das Interesse. »Die Leute standen vor meinen Bildern und staunten: ›Ich habe tatsächlich schon ganz vergessen, wie es damals aussah!‹« Seine Schwarz-Weiß-Bilder hängen in Ausstellungen, werden in Büchern und großen Magazinen abgedruckt. Siegfried Wittenburg will keine DDR-Nostalgie verbreiten und die Vergangenheit nicht verklären, das ist dem 72-Jährigen wichtig. Im Gegenteil. »Meine Bilder zeigen, wie ein Leben ohne Freiheit und Demokratie aussehen kann.« Eine wichtige Lektion für junge Menschen, die die DDR nur aus Erzählungen der Großeltern und Geschichtsbüchern kennen. Seit vielen Jahren reist Wittenburg durch ganz Deutschland und hält Fotovorträge an Schulen, oft in Kooperation mit den Landeszentralen für politische Bildung. Er zeigt Bilder von dem Land, das es nicht mehr gibt, und erzählt von der Stasi und IMs, aber auch von seiner Schulzeit in Markgrafenheide und der NVA. In fast allen Bundesländern war Wittenburg schon, er ist vor schätzungsweise 40.000 Jungen und Mädchen aufgetreten. »Es erstaunt mich immer wieder, wie viel Interesse die jungen Leute haben und wie viel sie verstehen.« Neben seinen Vortragsreisen tut Sigfried Wittenburg das, was er immer tat: Er fotografiert Alltagsszenen, ist dafür in ganz Europa unterwegs. »Ich wünsche mir, dass Menschen in ein paar Jahrzehnten auf diese Bilder schauen und staunen, wie es früher aussah.«