Literatur zum Nulltarif
Die wenigsten Menschen lesen Bücher mehr als einmal. Wohin also mit den ausgelesenen Schmökern? Zum Wegwerfen sind sie zu schade. Bücherschränke sind eine nachhaltige Alternative.
Wie wär’s mit Shakespeares Dramen? Oder lieber eine Nummer seichter: »Sissy. Ein Walzer in Schönbrunn«, Simmels »Niemand ist eine Insel«? Auch Reiseführer für den Südwesten der USA oder Teneriffa stehen im Regal, neben Kochbüchern, Krimis, einem Kinderlexikon und den »Buddenbrooks«. Wer in einem öffentlichen Bücherschrank nach neuem Lesefutter sucht, sollte nichts Bestimmtes im Kopf haben. Was einen beispielsweise in der ausgedienten Telefonzelle neben der Nikolaikirche erwartet, ist Glückssache. Gesine Nissen hatte schon ein paarmal Glück. Die begeisterte Leserin stöbert regelmäßig in der Buchhaltestelle in Gragetopshof, einem Bushäuschen, dessen Inneres der Dorfverein vor vier Jahren mit Regalbrettern bestückt und gestrichen hat. Gesine Nissen ist eine der Organisatorinnen. »Die Idee zu einem Büchertauschregal hatten wir schon länger. Warum soll man Bücher wegwerfen, wenn noch jemand anders sie lesen kann?« Als Corona kam, haben die Gragetopshofer Nägel mit Köpfen gemacht. Zur Freude vieler Hansestädter, die während der Pandemie in Rostocks grüner Umgebung unterwegs waren und sonst wenig Zeitvertreib hatten.
Bis heute kehren Lesefreunde gern in der Haltestelle an der Wendeschleife ein. Vor allem Kinderbücher sind gefragt. »Die sind immer gleich weg.« Ein paar Tausend Bücher haben hier schon den Besitzer gewechselt, schätzt Gesine Nissen. Wenn sie mit ihrem Hund unterwegs ist, schaut sie regelmäßig nach dem Rechten. Genau wie die anderen Dorfbewohner. Sie nimmt auch mal ein Fundstück mit nach Hause und stellt umgekehrt ausgelesene Lektüre ab. So soll es sein. Das »Bücherteilen« an öffentlichen Orten lebt vom Geben und Nehmen. Der Rest funktioniert in Gragetopshof fast von allein. Auch wenn kein Regelwerk an der Wand hängt: »Es versteht sich von selbst, dass man hier nichts Anstößiges entsorgt und die Bücher in einem vernünftigen Zustand sein sollten.« Zerlesene und vergilbte Schwarten sortieren die Paten auch mal aus. Der älteste Bücherschrank in Rostock ist die Bücherbüxe im Kurpark. Im Jahr 2014 haben ein paar Warnemünder die ehemalige Litfaßsäule aufgestellt. Seitdem tauschen Warnemünder und Urlauber dort anonym und kostenlos Lesestoff. Der jüngste Schrank steht seit wenigen Wochen in Biestow auf dem Marktplatz. Mittlerweile gibt es etwa 15 öffentliche Bücherregale in Rostock. Offizielle Zahlen gibt es nicht, weil sie oft auf private Initiativen zurückgehen. Manchmal steht das Regal in einem öffentlichen Gebäude, beispielsweise im Warnowpark. Anderswo werden ausgediente Telefonzellen umgenutzt. Die Stadtentsorgung hat auf ihren Recyclinghöfen kleine Büchereien in bunten Containern eingerichtet. Egal wie der Bücherschrank aussieht, das Prinzip ist immer gleich: Jeder kann sich etwas aussuchen oder hineinstellen. Und auch wenn es Büchertausch heißt: Für ein Buch ein anderes dazulassen, ist kein Muss. An Angeboten mangelt es nämlich selten. Andersherum ist es schon eher ein Problem. Manchmal werden zu viele Bücher abgestellt.
Eine Übersicht, wo man in Rostock kostenlos neues Lesefutter bekommt – und abgeben kann, finden Sie hier in der November-Ausgabe der WIRO aktuell.
Auf www.lesestunden.de gibt es eine Karte mit öffentlichen Bücherschränken im deutschsprachigen Raum und außerhalb | auch als App »Buchschrankfinder«