Hallo, Nachbar Fledermaus!
Sie leben in jedem Stadtteil, mitten unter uns. Versteckt unter Dachschindeln, in Fassadenfugen und hinter Regenrinnen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit flattern Fledermäuse wie lautlose Schatten über unseren Köpfen.
Für die Tiere der Nacht sind unwirtliche Zeiten angebrochen. In der Stadt werden die Quartiere knapp. Fledemäuse schlüpfen in Winkel und Hohlräume in Fassaden, unter lose Dachsteine, richten sich hier auch Wochenstuben zur Aufzucht der Jungen ein. Nur: Es gibt kaum noch Ritzen und Löcher. Die Hausbesitzer schmieren alle zu, wenn sie Fassaden sanieren und isolieren.
Christina Augustin kennt sich mit den bedrohten Fledertieren gut aus. Die promovierte Biologin ist Sachgebietsleiterin für Naturschutz im Rostocker Amt für Stadtgrün, Naturschutz und Friedhofswesen. Zudem engagiert sie sich ehrenamtlich im Fledermausschutz. Darum steht heute ein blauer Schuhkarton auf ihrem Schreibtisch. Vorsichtig öffnet sie den Deckel. Neun Fledermausbabys, höchstens zwei Zentimeter groß, kuscheln sich aneinander. Die hilflosen Jungtiere sind aus ihrer Wochenstube gepurzelt, ein Mann hat sie vor seiner Haustür gefunden und die Fledermausexpertin verständigt. Alle zwei Stunden flößt Christina Augustin ihnen mit einer dünnen Pipette ein paar Tröpfchen Ersatzmilch ein.
In Rostock leben mindestens elf Fledermausarten
Christina Augustin und ihre Kollegen geben acht, dass die Bestände – auch von anderen bedrohten Arten – nicht weiter schrumpfen. Sie versuchen, einen Ausgleich durchzusetzen: zwischen Städtebau und energetischen Sanierungen auf der einen Seite, den Bedürfnissen der Tiere auf der anderen. Wie das funktioniert, können Rostocker in der Lortzingstraße 6 bis 8 sehen. Der obere Teil der Klinkerfassade in Warnemünde ist gespickt mit unterschiedlichen Kästen. Insgesamt 18 neue Quartiere hat die WIRO vor wenigen Wochen für Fledermäuse, Mauersegler und andere Vogelarten, die an Gebäuden brüten, angebracht. Bis vor einem Jahr bot der 80 Jahre alte Wohnblock noch jede Menge Rückzugsorte für Vögel: lose Klinker und Ziegel, ein undichtes Dach mit vielen Ritzen. Nun rekonstruiert die WIRO das alte Haus. Neben dem Umbau im Inneren wurden das Dach erneuert, die Fassade ausgebessert und abgedichtet. Die fliegenden Bewohner wären obdachlos, wenn die WIRO nicht rechtzeitig für Ersatz gesorgt hätte. Noch ein Beispiel: Bei der Sanierung des WIRO-Jugendwohnheims in Lichtenhagen kamen 2023 nicht nur Baumängel aus DDR-Zeiten ans Licht, sondern auch jede Menge Vogelarten, die sich zwischen den Platten und dahinter eingerichtet hatten. An der Fassade des Sechsgeschossers in der Schleswiger Straße finden sich heute: Schlitze in der Dämmung, Nistkästen, künstliche Schwalbennester, Löcher in den Lüftungsschächten. Veronika Patrzek, die Projektleiterin der WIRO hat die Sanierungen in Lichtenhagen und in Warnemünde betreut: »Ohne Frage: Artenschutz ist aufwändig, er kostet viel Zeit und Geld. Aber er lohnt sich. Ich freue mich, wenn ich sehe, wie die Tiere ihr neues Zuhause annehmen.«
Ob Neubau oder Sanierung: Oft sind geschützte Tiere betroffen
Darum sollte ein Bauherr mit jedem Bauantrag auch Maßnahmen für den Artenschutz einplanen – damit Christina Augustin eine Naturschutzgenehmigung erteilt. So sieht es das Bundesnaturschutzgesetz vor. Ausgleichsmaßnahmen können Ersatzquartiere, aber auch neue Nahrungsflächen wie begrünte Dächer, heimische Obstbäume und Stauden sein. Im besten Fall, sagt die Sachgebietsleiterin, macht man es wie die WIRO und bezieht von Anfang an einen Artenschutzgutachter mit ein. Der erfasst die Tiere, die im und am Haus leben. Er bewertet, ob alte Nistplätze erhalten werden sollten und berät bei der Auswahl von Ersatz. Bei der Erschließung neuer Baugebiete steht die WIRO vor anderen Herausforderungen. »Baugebiete entstehen oft auf naturnahen Flächen mit einer hohen Biodiversität«, sagt Christina Augustin. Wer Lebensräume von Zauneidechsen, Kammmolchen oder Rotbauchunken besetzt, muss sich revanchieren. So hat die WIRO für das Wohngebiet Kiefernweg in Biestow viele Meter Amphibienzäune gebaut und die neuen Straßen untertunnelt, damit die heimischen Amphibien wie die Knoblauchkröten unversehrt wandern können. Die Wege von Mensch und Fledermaus kreuzen sich selten. Wenn, ist die Skepsis oft groß. »Fledermäuse saugen kein Blut und sind nicht gefährlich«, versichert Expertin Augustin. Im Gegenteil: Die Insektenfresser verputzen in einer Nacht bis zu 4.000 Mücken, fressen Schädlinge und leisten so einen wichtigen Beitrag zum ökologischen Gleichgewicht. Und ja, sie können theoretisch Tollwut übertragen, aber wer den direkten Kontakt vermeidet, braucht sich nicht fürchten. Christina Augustin berührt Fledermäuse in Not nur mit einem Tuch oder Handschuhen. »Das genügt als erste Schutzmaßnahme.« Manchmal kommt es vor, dass eine Fledermaus an lauen Sommerabenden durchs geöffnete Fenster ins Wohnzimmer flattert. Keine Panik! »Das sind Jungtiere, die ihre ersten Flugversuche unternehmen und vom Weg abkommen.« Die Expertin rät: »Meist reicht es schon aus, das Licht auszumachen und die Fenster weit zu öffnen.«
Verletzte Fledermäuse oder verlassene Jungtiere gefunden? Der bundesweite Fledermausnotruf des NABU hilft mit Rat und Tat: 030 284984-5000
Nicht nur Fledermäuse sind gefährdet. Auch andere Wildtiere haben es in der Stadt schwer. Wie jeder Rostocker helfen kann, lesen Sie hier in unserer Juli-Ausgabe der WIRO aktuell.